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Die Predigt |
An die Gottesdienstbesucher
wurde eine Postkarte mit einem Spiegelkreuz verteilt. Aus Urheberrechtsgründen
möchte ich sie hier nicht abdrucken. Sie ist erhältlich
beim Gottesdienstinstitut
der Landeskirche. Wesentliche Gedanken zum Bild sind einer dort erschienenen
Arbeitshilfe entnommen.
In den Spiegel schauen
Wie ist das, wenn Sie am Morgen aufstehn? Sehen Sie da schon etwas
Rechtes? Sehen Sie schon scharf? Brauchen Sie vielleicht erst Ihre
Brille, weil Sie vorher eher hilflos sind? Blinzeln sie erst einmal
nur ein wenig, bis Sie sich den Schlaf aus den Augen gewischt haben?
Und wohin geht dann der erste so richtig klare Blick? ... Für
die meisten wahrscheinlich in den Spiegel.
Ist das nicht wieder typisch Mensch? Der erste Blick gilt meistens
uns selber. Wir richten uns her, damit wir selber und andere uns anschauen
können. Mancher gefällt sich nicht, wenn er sich am Morgen
zum ersten Mal sieht. Manche sagen sogar spaßhaft, sie würden
den oft gar nicht kennen, der sie da am Morgen anschaut.
Wer möchte nicht ein möglichst gutes Bild abgeben? Also
„machen wir uns schön“. Aber was ist das eigentlich
für ein Ausdruck: Wir machen uns schön. Sind wir’s
oder sind wir’s nicht? Und ändert sich innerlich etwas,
wenn wir uns äußerlich schön machen?
Aber so ist es. Es ist menschlich. Wir wollen, dass man uns ansehen
kann. Wir möchten gerne an-gesehen sein. Und ganze Industriezweige
leben davon. „Spieglein, Spieglein an der Wand. Wer ist die
schönste im ganzen Land?“
Der zerbrochene Spiegel
Sie haben am Anfang eine Karte bekommen. Diese Karte ist wie ein Spiegel.
Man kann sich in ihr anschauen. Doch eines ist anders: Wir sehen uns
nicht wie im Spiegel daheim. Je nachdem, wie wir die Karte biegen
oder bewegen, sehen wir uns verzerrt. Die Linien und Brüche auf
der Spiegelfläche verändern unser Gesicht.
Welcher Spiegel zeigt uns richtig? Der schöne, vor dem und mit
dem wir uns schön machen? ... Oder eher dieser gebrochene, zerbrochene?
Welche der Spiegel zeigt etwas von unserem Wesen? Welcher zeigt, wie
wir wirklich sind?
Ist dieser gebrochene Spiegel hier nicht der ehrlichere? Ziehen sich
nicht durch unser Leben solche Risse und Sprünge, die wir selber
kennen, die wir aber ungern nach außen zeigen, die wir lieber
verbergen, die wir vor dem schönen Spiegel vielleicht sogar zukleistern,
damit man sie nicht sieht?
Die Gebrochenheit des Lebens
Dieser ehrliche Spiegel erinnert mich an manches in meinem Leben,
was bruchstückhaft ist und unvollkommen. Manche Schwäche,
mancher Fehler, manche Eitelkeit, manche Rechthaberei, manche Versuchung.
Das Bild nach außen ist oft anders als das ehrliche, schonungslose
Bild nach innen, das nur ich kenne.
Das Kreuz auf dieser Karte ist, wie Sie der Rückseite entnehmen
können, einem echten Spiegelkreuz nachempfunden. Etwa ein Meter
hoch hat es ein Künstler aus lauter zusammengesetzten Spiegelscherben
hergestellt, die in eine Holzplatte eingelassen sind.
Der Künstler hat diesem Spiegelkreuz den Titel gegeben: Ich
(der Betrachter) zerbrochen in der Tiefe, gehalten durch das Kreuz.
Die Spiegelscherben stehen für die Brüche meines (des
Betrachters) Leben. Aber sie werden zusammengefügt und zusammengehalten
durch das Kreuz. Meine Gebrochenheit wird aufgehoben, aber wie Narben
kann ich sie nicht verstecken oder verbergen.
Ich bin gebrochen in der Tiefe meines Wesens. Aber ich bin gehalten
durch das Kreuz. Das macht das Wesen eines Christen aus: Wissen, wer
und wie ich in der Tiefe meines Herzens und Wesens bin. Dem nicht
ausweichen. Es nicht beschönigen. Und mich doch geliebt, bejaht
und gehalten wissen von Gott. Von Gott, der in Christus selber dem
Leiden, dem Kreuz, der Zerbrochenheit nicht ausgewichen ist.
Von faulen und guten Bäumen
Den Pharisäern, die damals vor den Leuten ein möglichst
perfektes Bild abgeben wollten, sagt Jesus in Matthäus 12 sehr
kritisch:
33 Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut sein;
oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein.
Denn an der Frucht erkennt man den Baum. 34 Ihr Schlangenbrut, wie
könnt ihr Gutes reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll
ist, des geht der Mund über. 35 Ein guter Mensch bringt Gutes
hervor aus dem guten Schatz seines Herzens; und ein böser Mensch
bringt Böses hervor aus seinem bösen Schatz.
Vergessen wir am besten gleich wieder, dass das von Jesus zu den Pharisäern
gesagt wurde. Sonst könnten wir vielleicht sagen: „Gott
sei Dank, dann gilt es ja nicht uns.“
Innen und außen gehören untrennbar zusammen: Der Antrieb,
mit dem ich etwas tue, und was ich dann tue. So zeigt es das Bild
vom Baum und den Früchten. So zeigt es das Bild vom Herzen, das
überläuft und Gutes oder Schlechtes hervorbringt.
Der Mensch: von Grund auf böse oder gut?
Aber wie sind wir nun: von Hause aus und im Herzen? Die alte Frage:
Ist der Mensch von Hause aus gut oder schlecht?
Die Schöpfungs- und Urgeschichte, die Aussagen machen will über
alle Menschen, sieht den Menschen mit seinem unausrottbaren Egoismus
ziemlich nüchtern. So heißt es vor der Sintflut:
„Der HERR sah, dass der Menschen Bosheit groß war
auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse
immerdar.“ (Gen 6,5)
Und obwohl sich Gottes Urteil mit der Sintflut nicht ändert,
bleibt er dem Menschen dennoch gnädig:
„Der HERR ... sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort
nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten
und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.“
(Gen 8,21)
Gebrochene Existenz wie im Spiegelkreuz, aber doch aufgehoben und
zusammengehalten von der Gnade Gottes.
Unausrottbar böse von Grund auf. Das heißt nach dem Neuen
Testament nicht, dass Hopfen und Malz verloren wären, dass nichts
zu ändern wäre. Die Frage „grundböse oder grundgut“
ist eher schwarz-weiß gemalt. Wir sind beides. Paulus sagt von
dieser gebrochenen Existenz, von dieser Zerrissenheit:
„18 Ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem
Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen
kann ich nicht. 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich daraus erlösen?
25 Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ (Röm
7)
Also: Ich selber aus eigener Kraft kann diese Gebrochenheit nicht
heilen, kann mich aus dieser Zerrissenheit nicht erlösen. Wohl
aber Gott in Jesus Christus.
Paulus unterscheidet „Fleisch“ und „Geist“.
Fleisch: Wir würden sagen, so sind wir von Natur aus. Geist:
Das erleben wir im Glauben. Und für den Glaubenden, der sich
selber ehrlich sieht und auf Gott vertraut, gilt:
13 ... wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet,
so werdet ihr leben. 14 Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind
Gottes Kinder. (Röm 8)
Von der Heilung der Gebrochenheit
Aus eigener Kraft kann ich meine Gebrochenheit nicht heilen. Aber
wenn ich mich auf Gottes verändernde Kraft einlasse, kann der
Heilige Geist die Scherben meines Lebens Stück für Stück
zusammenfügen. Ich muss nicht bleiben, der ich bin.
Beichte und Abendmahl laden ein, mit diesem Prozess immer neu anzufangen.
Der erste Schritt ist, ehrlich vor mir selbst und vor Gott meine Gebrochenheit
zu sehen, meinem Bild im Scherbenkreuz nicht auszuweichen.
Der zweite Schritt ist, diese Gebrochenheit in der Stille vor Gott
auszusprechen: Gott, ich halte dir die Scherben meines Lebensbildes
hin. Ich vertraue darauf, dass du mein bruchstückhaftes Leben
in deiner Hand hältst und vertraue auf deine verändernde
Kraft.
Der dritte Schritt ist, Gottes Vergebung zu hören, indem wir
frei, ledig und los gesprochen werden.
Der vierte Schritt ist das Abendmahl, wo wir dem Gekreuzigten begegnen,
der spricht: „Mein Leib, für dich gegeben. Mein Blut, für
dich vergossen.“
Und der fünfte Schritt ist, nach dem Abendmahl gestärkt
in den Alltag zu gehen, und den Christus in mir an mir arbeiten und
mich verändern zu lassen. Von Gott angenommen darf ich mich erhobenen
Hauptes im Scherbenspiegel anschauen. Jeden Morgen neu. |
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