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Die Predigt |
Krankheiten als
Schlüssel?
„Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns
gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse
Tore, die einzig die Krankheit öffnen kann. (Es gibt jedenfalls
einen Gesundheitszustand, der es uns nicht erlaubt, alles zu verstehen.)
Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Weisheiten;
ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt
uns davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern.“
Dieses Wort des französischen Schriftstellers André Gide
lesen wir unter den Zwischentexten unseres Gesangbuchs. Hinten im
Textteil im Abschnitt „Krankheit und Heilung“.
„Ich glaube, dass die Krankheiten Schlüssel sind, die uns
gewisse Tore öffnen können.“
So ähnlich höre ich es, natürlich in andere Worte gefasst,
immer wieder bei Besuchen im Krankenhaus. Man kann der Krankheit,
man kann dem Aufenthalt im Krankenhaus einen Sinn abgewinnen. Sie
können einen auf Dinge hinweisen und Wege zeigen, die man bisher
noch nicht gesehen oder entdeckt hat.
Warum gibt es Krankheit? Wozu ist Krankheit da? So lesen wir im Johannesevangelium
Kapitel 9:
(Text siehe oben)
Die Frage nach dem Warum
Da ist ein Mensch, der ist blind, ja sogar blind von Geburt an. Er
sitzt vor der Tür des Tempels und bettelt, als Jesus mit seinen
Jüngern vorbeikommt. Das ist seine einzige Möglichkeit,
am Leben zu bleiben. Die Menschen, die aus dem Tempel kommen oder
in ihn hineingehen, kennen ihre religiöse Pflicht, für die
Armen des Volkes zu sorgen.
Blind von Geburt an. Das ist die höchste Steigerung von blind.
Noch nie hat dieser Mensch das Licht gesehen. Er weiß nicht,
was Farben sind. Er kennt nicht die Schönheit der Blumen und
die Gesichter der Menschen. Können wir uns das vorstellen: Blind
von Geburt?
Aber das ist ja nicht das einzige, denn blind von Geburt an heißt:
Von Geburt an betteln müssen, von Geburt an als ausgestoßener
und sündiger Mensch zu gelten, der nicht wie die anderen in den
Tempel und zu Gott darf. So war es – leider: Krankheit war nach
dem verbreiteten Denken der damaligen Zeit ein Zeichen von Sünde.
Wenn Gott gerecht ist und gerecht handelt, dann muss, wer schwer krank
ist, auch schwer gesündigt haben. Damit war das Leid anderer
abgehakt und erklärt. Ob es mit dem eigenen Leiden auch immer
so einfach ging, weiß ich nicht.
Altes Denken. Aber ist es wirklich alt? Gibt es die Frage nach dem
Warum und nach der Schuld heute nicht genauso: „Warum muss ich
so krank sein? Was hab ich denn verbrochen?“ Da ist sie, diese
alte Frage: Wofür will Gott mich strafen?
Den Kranken als Menschen sehen!
Zurück zu den Jüngern Jesu. Für sie ist alles klar:
Die Blindheit dieses Menschen ist ein Zeichen für Sünde.
Sie sind Menschen ihrer Zeit. Sie denken, wie die anderen denken.
Immer wieder spürt man das auch in anderen Erzählungen,
und fragt sich, warum sie durch den Umgang mit Jesus überhaupt
nichts hinzugelernt haben. Sie haben Jesus kennen gelernt als einen,
der im anderen den Menschen sieht und sich um ihn kümmert. Und
jetzt begegnen sie diesem beklagenswerten Menschen, doch als Mensch
interessiert er sie gar nicht, sondern nur als theologisches Problem:
„Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern,
dass er blind geboren ist?“ Das Gedankengebäude steht
felsenfest. Hier muss schwere Schuld vorliegen, von wem auch immer.
Wenn also dieser Mensch von Geburt an blind ist, dann muss die Schuld
vorgeburtlich gesucht werden.
Sie haben richtig gehört. So weit ging das Denken in der damaligen
Zeit: Damit die Rechnung von Sünde und Leid immer aufging, rechneten
die einen damit, dass ein Mensch schon vor seiner Geburt, also noch
im Mutterleib, sündigen kann, und die anderen schoben es auf
die Sünde seiner Eltern.
Jesus räumt bei seinen Jüngern mit diesem alten Denken radikal
auf. Er entscheidet sich in dieser Streitfrage nicht für eine
der beiden Möglichkeiten, sondern er erklärt das ganze Denkgebäude,
dass einer Krankheit Schuld vorausgehen muss, für verfehlt. Die
Frage nach der Schuld und dem Warum ist rückwärtsgewandt.
Jesus fragt nach dem Wozu. Er fragt vorwärtsgewandt:
„Es hat weder dieser gesündigt, noch seine Eltern,
sondern es sollen die Werke Gottes sichtbar werden an ihm.“
Nicht deswegen ist dieser Mensch krank, weil er etwas Böses getan
hätte, sondern weil Gott mit ihm etwas vor hat, weil Gott an
ihm etwas tun will. Das heißt aber auch: Gott will ihn so, wie
er ist. Und die Menschen können sich nicht auf Gott berufen,
wenn sie ihn ausstoßen.
Das heißt aber auch: Seht in diesem Menschen nicht einfach nur
ein theologisches Problem! Seht den Menschen! Kümmert euch um
ihn!
Und wenn die Jünger nur Spiegelbilder von uns heute sind, dann
gilt dieser Aufruf auch uns: Fragt nicht nach dem Warum, sondern macht
euch auf die Suche danach, was Gutes darin liegen könnte. Und:
Fragt nicht so viel, sondern kümmert euch um den Menschen.
Jesus fragt nicht. Er handelt.
Wie bei allen Lebensfragen gibt es natürlich auch hier keine
einfache Antwort, die für alle gilt. Für den blinden Mann
vor dem Tempel, und erst einmal nur für ihn, heißt die
Antwort Jesu: An ihm soll die heilende Macht Gottes gezeigt werden,
eine Macht, für die es keine Grenzen gibt. Auch dass seine Blindheit
von Geburt an besteht, ist kein Grund, an Gottes Macht zu zweifeln.
Alle Menschen sollen es sehen, wie Gott den, den alle schon längst
abgeschrieben und als Sünder abgestempelt haben, wieder ins Leben
zurückholt.
Jesus redet nicht lange über den Sinn und den Unsinn des Leidens,
sondern er schreitet zur Tat. Er gibt sich auch körperlich mit
dem ab, den aus Ekel und Verachtung niemand angefasst hat. Aus Speichel
und Erde macht er einen Brei, den er ihm auf die Augen schmiert. Dann
schickt er den Mann an den Teich Siloah, dessen Wasser man heilende
Kräfte zuschrieb. Als er sich dort gewaschen hatte, kehrte der
Mann gesund zurück.
Wir erfahren aus der Erzählung nicht, was den Mann gesund gemacht
hat: der Brei aus Speichel und Erde, das Wasser des Teiches, sein
Vertrauen in Jesus. Wir brauchen uns bei dieser Frage aber auch gar
nicht aufhalten. Sie trägt nichts aus. In anderen Erzählungen
heilt Jesus ohne irgendein äußeres Heilmittel, sondern
allein durch sein Wort.
Entscheidend ist für den Evangelisten Johannes, was Jesus hinterher
zu seinem Tun sagt:
„Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt
hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.
Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“
Kranke brauchen Beistand
Deutlicher kann man es nicht sagen: Leiden ist nicht dazu da, um darüber
klug zu diskutieren und nachzusinnen, sondern um es zu bekämpfen.
„Der mich gesandt hat“, damit ist Gott gemeint. Gottes
Werke will Jesus tun. Und Gottes Werke tun, heißt, auf dieser
Erde das Leben zu fördern und dem Leid zu widerstehen.
„Solange es Tag ist“, will Jesus das tun, also: solange
er auf der Welt ist, solange er kann. Jesus, der die damals Mächtigen
so herausgefordert und provoziert hat, wusste, dass sie ihn nicht
ewig würden gewähren lassen.
Und noch genauer müssen wir hinsehen: „Wir müssen
die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat.“ Das heißt
doch: Krankheit darf nicht nur Gott überlassen werden. Der Kranke
darf nicht nur sich selbst überlassen werden. Wir sind herausgefordert:
Wir sind Licht der Welt und Salz der Erde im Sinne Jesu, wenn wir
nicht nur über das Leiden diskutieren, sondern in Gottes Namen
gegen das Leiden ankämpfen.
Was hilft es den Menschen, wenn wir nach dem Sinn fragen? Was hilft
es, wenn wir sie bedauern und nebenbei ganz glücklich sind, dass
es uns nicht so geht? Was hilft es, wenn wir ihnen aus dem Weg gehen,
weil wir das Leid nicht sehen können oder nicht wissen, wie wir
uns richtig verhalten sollen?
Kranke wollen besucht werden, wollen angefasst werden, wollen, dass
man ihn ein wenig zuhört, wollen ein gutes Wort hören, wollen
wissen, dass man für sie betet. Kranke wollen spüren, dass
sie nicht in ein Krankenhaus oder Altenheim abgeschoben und vergessen
sind.
Und wenn es dann vielleicht im Gespräch auch darum geht, was
Gutes in der Krankheit liegen könnte, welche Tür sie öffnen
könnte, dann brauchen sie keine klugen Antworten von außen.
Sie können diese Frage nur selber im Gespräch mit Gott beantworten. |
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