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Die Predigt vom Bibelsonntag 1999: »Ich bin angesprochen«


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Kirchenjahr

Evangelisches Kirchenjahr
Liturgischer Kalender (Java!)
Predigttext

  Die evangelische Kirche beging am Sonntag eigentlich den 3. Sonntag vor der Passionszeit. Am letzten Sonntag im Januar wird jedoch auch zum Bibelsonntag eingeladen. Der zugehörige Predigttext kommt aus dem Lukasevangelium Kapitel 4:

Predigttext

Sie können Texte auch online in der Lutherbibel nachlesen.
(Weitere Bibellinks finden Sie unter
Glaube und Leben.)

  16 Und Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1.2): 18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, 19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« 20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Predigt

  "Antwort auf alle Fragen gibt uns dein Wort. Ausweg aus allen Plagen zeigt uns dein Wort." So heißt es in einem modernen Kirchenlied. Der Verfasser des Liedes mag es für sein Leben so erfahren haben. Doch so allgemein, wie es da steht "Antwort auf alle Fragen" kann ich doch aus den Erfahrungen in meiner Arbeit nicht zustimmen. Die Bibel ist kein Automat, wo man nach Einwurf eines Geldstücks das Gewünschte erhält. Die Bibel ist kein Kochbuch, wo man für alles das richtige Rezept bekommt. Gedichtet ist das Lied wohl aus der Begeisterung eines Menschen heraus, der das öfter erfahren hat: Eine Frage, eine Sorge, eine Unklarheit hat ihn umgetrieben. Seine Gedanken kreisten nur. Und beim Lesen der Bibel ging ihm auf einmal schlagartig auf, wie sein weiterer Weg sein soll.

"Ich bin gemeint!"

Gott sei Dank, das gibt es. Das erleben immer wieder Menschen: Sie sitzen im Gottesdienst und haben bei einer Lesung oder in der Predigt plötzlich das Gefühl: "Da geht es um mich. Mir ist das gesagt." Oder sie lesen ihr Losungsbuch oder ihren Neukirchner Kalender und finden ein Wort, von dem man meinen könnte, es sei auf der ganzen Welt nur für sie und für diesen Tag geschrieben. Ein Wort, das gerade sie trifft, aber den Nachbarn vielleicht ganz kalt läßt.

Die "Antrittspredigt" in Nazareth

Von einer solchen Situation, wo ein altes Wort in das gegenwärtige Leben trifft, wird in dem Bibeltext erzählt, der für den heutigen Bibelsonntag vorgeschlagen ist: 16 Und Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jesaja 61,1.2): 18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, 19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.« 20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Die Vorgeschichte

Vom ersten öffentlichen Auftritt des Wanderpredigers Jesus in seiner Heimatstadt Nazareth wird hier erzählt. Dem gehen die Erzählungen von seiner Taufe im Jordan und die von seiner Versuchung voraus: Bei der Taufe erhielt Jesus von Gott seinen Auftrag. Gott verspricht ihm seine Nähe. Er schenkt ihm den Heiligen Geist. In der Einsamkeit der Wüste bereitet sich Jesus wie ein Einsiedler auf diesen schweren Auftrag vor. Vom Verführer auf die Probe gestellt, lernt er, daß ein öffentlicher Auftrag und Erfolg vor den Menschen auch eine Versuchung bedeuten. Er lernt, daß er die Macht, die Gott ihm schenkt, nicht eigennützig, sondern für andere verwenden soll.

Jesus als frommer Jude

16 Und Jesus kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf und wollte lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht.

Als frommer Jude wird uns Jesus beschrieben, als Mensch, der aus dem Gottesdienst und der heiligen Schrift lebt und Kraft bekommt. In der Synagoge, die unter der Woche Schulhaus und am Sabbat Gottesdiensthaus war, wurde Sabbat für Sabbat neben Gebet und Segen auch die Heilige Schrift der Juden, unser Altes Testament, aus einer Pergamentrolle gelesen und kurz ausgelegt. Jeder in seinem Glauben Selbständige, jeder Konfirmierte, so würden wir bei uns vergleichsweise sagen, hatte das Recht, das zu tun. Und so hat man Jesus entweder bewußt darum gebeten, weil ihm sein Ruf vorausgeeilt war, oder er selber hat es sich gewünscht.

Steinalt, aber doch lebendig

20 Und als er das Buch zutat, gab er's dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.

Ein Wort des Propheten Jesaja, damals schon etwa 500 Jahre alt, liest Jesus vor, um dann zu sagen: Es mag ein altes Wort sein. Wer weiß, wie viele Generationen dieses Wort schon gehört und gelesen haben. Aber hier und heute gilt es für euch, als sei es allein für euch geschrieben.

Diese Erfahrung, daß man auf einmal das Gefühl oder gar die Gewißheit hat, ein Wort sei für einen ganz persönlich bestimmt, die machen Menschen immer wieder und erzählen mir auch in Gesprächen davon. Da sitzt einer im Gottesdienst bei einer Predigt und fragt sich auf einmal heimlich: Meint er jetzt mich? Da schlägt jemand am Morgen seine Bibel auf und findet, vorbereitet durch eine unruhige Nacht, die Antwort auf die Frage, die ihn gerade umgetrieben hat. Oder er hört mitten hinein in eine Phase der Depression ein ermutigendes Wort.

Sie konnten zusammen nicht kommen ...

Warum kann man zweimal einen Gottesdienst besuchen, ohne besonders angesprochen worden zu sein, und beim dritten Mal hat man auf einmal das Gefühl: Es geht um mich? Warum kann man Tag für Tag sein Losungen lesen, ohne daß sich etwas tut, und eines Morgens hat man das Gefühl: Hier steht die Antwort auf meine Frage. Hier steht die Ermunterung für meine derzeitige Stimmung. Hier ist der Wegweiser für meine Orientierungslosigkeit?

Nicht jedes Bibelwort gilt in jeder Lebenssituation. Die eigene Situation und die Botschaft müssen zusammenpassen, sonst zuckt man vielleicht nur die Schultern. Da mag jemand den 23. Psalm vom guten Hirten schon oft gehört oder gesprochen haben. Wie ein schönes Gedicht aus alter Zeit, Katechismuswissen, aber nicht mehr. Und auf einmal, in einer Situation der Trauer, der Verzweiflung, der Depression fährt es ihm ganz tief hinein: "Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück."

Zehn Menschen bringen in einen Gottesdienst am Sonntagmorgen zehn Lebensgeschichten mit, haben zehn verschiedene Wochen hinter sich, zehn verschiedene Nächte erlebt, bevor sie aufgestanden sind. Und so wird der eine angesprochen und ein anderer geht leer aus, um vielleicht am Sonntag darauf angesprochen zu werden, während da der Nachbar leer aus geht.

Oder man bringt einen Gedanken mit, der einen so beschäftigt, daß man gar nicht richtig zuhören kann. Oder die Konfirmanden können während der langweiligen Predigt ihren Mund nicht halten, und sorgen dafür, daß die, die vor ihnen sitzen, dauernd den Faden verlieren.

Und es geht doch!

Und doch gibt es das trotz aller Hindernisse immer wieder, daß ein Bibelwort einem begegnet wie ein Engel, der zur richtigen Zeit mit der richtigen Botschaft am richtigen Ort ist. Zwei Dinge braucht es aber dazu, die ich beide in dieser Erzählung von Jesus in Nazareth entdecke:

Zum einen: Wer so etwas öfter erleben will, daß er das richtig Wort zur richtigen Zeit geschenkt bekommt, der muß auch die Begegnungen mit diesem Wort suchen. Dem Wort Gottes begegnen im Gottesdienst, wo es gelesen und gepredigt wird, dem Wort Gottes begegnen in einem Gemeindekreis, wo man darüber ins Gespräch kommt und seine persönlichen Eindrücke austauschen kann. Dem Wort Gottes begegnen im stillen Kämmerlein beim Lesen in der Bibel.

Wenn ich weiß, daß nicht jede Begegnung gelingen kann, wie auch unter Menschen, dann muß ich solche Begegnungen bewußt suchen, um meine Chancen auf gute Begegnungen zu verbessern. Wer sich auf einmal in einer Not vorfindet, und lange nicht mehr gebetet hat, lange nicht mehr die Bibel um Rat gefragt hat, wie kann der erwarten, daß er beim ersten Mal gleich Erfolg hat? (Auch wenn es das, Gott sei Dank, gibt. Denn Gott ist ja weder kleinlich noch nachtragend.)

Warte ich überhaupt auf etwas?

Das bringt mich zum zweiten: Besonders empfänglich sind wir Menschen für Gottes Botschaft, ja überhaupt für gute Worte, wenn wir sie gerade bitter nötig haben: Wenn unsere Haut dünn ist, wenn unsere Seele durstig ist, wenn unser Inneres ausgetrocknet ist wie ein Schwamm, der alles gierig aufsaugt. 18 Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen. So beginnt jene Lesung aus dem Propheten Jesaja. Das Evangelium ist ein Wort für die Armen. Evangelium, das heißt: gute, frohe Botschaft. Wer sucht gute, mutmachende, tröstende Botschaften? Nicht so sehr der Selbstgenügsame, nicht der Stolze, nicht der Freche, nicht der, der meint, er hat alles und er braucht nichts, und er kann sich seine Antworten selber geben. Sondern eher der seelisch und körperlich Arme, der nur seine Hände aufhalten kann, um sich etwas schenken zu lassen.

Das ist Gott gegenüber gewiß keine Schande, wenn jemand erst die Hände ausstreckt, wenn er Hilfe nötig hat. Doch bedenklich und traurig macht es, wenn er erst die Hände gefüllt bekommt, um hinterher, wo er sich selber helfen kann, wieder zur Tagesordnung und zum alten Trott zurückzukehren.

Wer mag besonders empfänglich sein und besonders gierig nach guten, heilenden Worten? Wer erlebt am ehesten, daß ein Bibelwort wie für ihn persönlich gemacht ist? 18 ... er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie frei sein sollen, und den Blinden, daß sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen.

Gefangene, Blinde oder Zerschlagene, wörtlich gemeint oder übertragen, körperlich oder seelisch, sollen im Gottesdienst und über der Bibel ihre Ohren und ihr Herz aufsperren. Gefangen und gebunden von Gewohnheiten oder Süchten. Eingesperrt von den eigenen Erwartungen oder denen anderer. Blind, ohne Aussicht, ohne Perspektive, unsicher, wie es weitergehen soll. Zerschlagen, innerlich kaputt, abgespannt, ausgelaugt. Für die hat Gott etwas übrig. Aber für die Starken auch. Ja, vielleicht brauchen sie ihn sogar noch nötiger.

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de