Wieder
zurück finden
„Lasst uns essen und fröhlich sein! Denn dieser mein
Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und
ist gefunden worden." (Lukas 15,24)
Darum geht es an diesem Sonntag im Kirchenjahr: Menschen können
verloren gehen. Aber Gott sei Dank werden sie wieder gefunden bzw.
finden selber wieder zurück. Jesus meint das in einem übertragenen
Sinn, dass Menschen verloren gehen. Vor dem Gleichnis vom verlorenen
Sohn erzählt er, wie leicht man Geld verlieren kann und sich
dann freut, wenn man es wieder findet. Oder wie sich ein Schaf verirren
kann und dann wieder gefunden wird. Heute würde Jesus vielleicht
von einer entlaufenen Katze oder einem entflogenen Vogel erzählen.
Genauso, sagt er, können Menschen sich verirren oder auf Abwege
geraten. Aus eigener Schuld oder ohne ihren Willen. Und jeder sollte
sich freuen, wenn sie dann wieder zurückfinden oder doch noch
einmal die Kurve kriegen.
Und das ist nicht nur ein Thema für Gefängnisseelsorger.
Auch manche Eltern können ein Lied davon singen, wenn sie Kinder
in einem Alter haben, wo man alles Mögliche ausprobieren muss,
um seinen Weg zu finden. Und wenn auch die Töchter im Neuen
Testament so selten vorkommen, heißt das ja nicht, dass das
nur ein Jungenproblem wäre.
Oder wie schnell kann es gehen, dass jemand sozial ins Abseits oder
an den Rand der Gesellschaft gerät. Nicht einfach nur durch
leichtsinnige Finanzspekulationen, sondern ganz und gar unschuldig,
z.B. indem auf einmal sein Arbeitsplatz wegfällt.
Das ist das Entscheidende bei Jesus: Wenn er solchen Menschen begegnet,
dann fragt er nicht zuerst nach der Schuld, sondern wie ihnen geholfen
werden kann. Und er lädt die Umstehenden ein, nicht schadenfroh
und besserwisserisch zu sein, sondern im Gegenteil: sich zu freuen,
wenn jemand wieder die Kurve kriegt.
Jesus und die am Rande
Mit lauter solchen Menschen hatte Jesus nach den Erzählungen
der Bibel zu tun. Sie lagen ihm am Herzen. Um sie hat er sich gekümmert.
Und so bringt er sein Leben und seinen Auftrag folgendermaßen
auf den Punkt. (Es ist der Wochenspruch, das kirchliche Leitwort
für diese Woche.)
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist." (Lukas 19,10)
„Selber schuld!" Oder „Hopfen und Malz verloren."
Diese Ausreden, warum man jemand anderen nicht zu helfen braucht,
hat Jesus nicht gekannt. Überhaupt haben ihn die einfachen
Lösungen seiner Zeitgenossen zum Zorn gereizt. Die Welt ist
halt nun mal einfacher und das Thema schnell erledigt, wenn alle
Arbeitslosen faul sind, alle Sozialhilfeempfänger Schmarotzer,
alle Albaner Gauner, alle Asylanten Wirtschaftsflüchtlinge,
alle Drogenabhängigen und Aids-Kranken selber schuld und alle
Pflegeheimbewohner senil.
Doch das wahre Leben ist immer ein wenig komplizierter und vielschichtiger.
Wer waren damals die am Rande, die im Abseits, die auf Abwegen,
die sog. Verlorenen?
Selber schuld?
Im Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt Jesus von jemand,
der offensichtlich wirklich aus eigener Schuld in die Sackgasse
geraten ist: Aus Übermut, aus jugendlichem Leichtsinn, weil
ihm die Freiheit, für die er nicht reif war, zu Kopf gestiegen
ist.
Aber war er beim zweiten Hinsehen wirklich nur selber schuld? Hätte
sein Vater ihn vielleicht bremsen müssen? Hätte er ihn
besser kennen müssen? Ihn, den Zweitgeborenen, der dauernd
im Schatten des ersten stand: nicht so fleißig, nicht so geschickt,
nicht so ernsthaft, nicht so brav. Endlich mal raus und nicht dauernd
mit dem Großen verglichen werden.
Oder Jesus erzählt von Leuten, die in einer Zwickmühle
waren, zwischen den Stühlen, in einem Dilemma, um das man sie
wirklich nicht zu beneiden braucht.
Sein Lebensmotte „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen
und selig zu machen, was verloren ist." ist der Schluss der
Zachäusgeschichte. Zachäus, jener klein gewachsene Zolleinnehmer,
der den durchreisenden Wanderprediger Jesus unbedingt sehen will
und dazu auf einen Baum steigt, weil ihn die Menge mobbt und auf
die Seite drängt. „Bei einem Sünder ist er eingekehrt."
Man ist gleich fertig mit ihm. Man war die ganze Zeit schon fertig
mit ihm. Jesus kam zum ersten Mal in die Stadt. Und er schaut ein
wenig genauer und ohne Vorurteil hin. Sicher, die Zolleinnehmer
haben üblicherweise betrogen, mehr genommen als legal war,
ihre Macht ausgenutzt. Aber wer hat je daran gedacht, dass der Zöllner
ja selber ein Abhängiger war, ein Gefangener des Systems, verstrickt
in die damaligen Strukturen. Dass er selber die Zollstation ja nur
gepachtet hatte, die Pacht im voraus zahlen musste, und nun schauen,
wie er wieder zu seinem Geld kam, und nebenbei noch eine Familie
ernähren.
Und dann drittens alle, die wirklich ohne Schuld ins Abseits geraten
waren: Die körperlich Kranken z.B., die damals auch von den
Frommen ohne schlechtes Gewissen gemieden wurden, denn man sah in
Krankheit meist eine Strafe Gottes. Die Blinden, die nur noch betteln
konnten. Die Gelähmten und Buckeligen, bei denen man tat, als
würde man sie nicht sehen. Die Aussätzigen, die man in
Kolonien außerhalb der Dörfer verbannte. Die psychisch
Kranken, die einem unheimlich waren, und die man mangels besseren
Wissens sich nur als von einer bösen Macht besessen erklären
konnte. Witwen, die ohne Ernährer rechtlos waren. Frauen und
Kinder, die in der Öffentlichkeit eine Stufe tiefer als die
Männer standen.
Ab ins Heim!
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist."
„Der Menschensohn". So bezeichnet sich Jesus selbst.
Und wer damals seine Bibel kannte, hat gleich an eine Prophezeiung
des Propheten Daniel gedacht: In der letzten Zeit, in der Endzeit
werde ein solcher kommen, der Sohn eines Menschen, ein Menschenkind,
einer, der im Namen Gottes Gerechtigkeit schafft. So scheint sich
Jesus zu verstehen.
„Zu suchen" ist Jesus gekommen. Suchen, das war das Gegenteil
von dem, was seine Zeitgenossen taten: An den Rand des Dorfes mit
den Kranken! An den Rand der Gesellschaft mit den Außenseitern!
Weg mit ihnen: in die Altenheime, in die Gefängnisse, in die
Psychiatrie. Wenn man sie nicht sieht, tut einen ihr Schicksal weniger
weh.
Jesus hat sie gesucht. Er hat sie auf-gesucht. Er hat die Frauen
gewürdigt und die Kinder in den Mittelpunkt gestellt. Er hat
die Aussätzigen angelangt. Er hat die Kranken in den Arm genommen.
Er hat sich mit den Asozialen an einen Tisch gesetzt. Er hat sie
gesucht, wie ein Hirte ein verlorenes Schaf sucht.
Welche Seligkeit ist gemeint?
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist."
Um „selig zu machen" ist er gekommen. Da hat sich die
Bedeutung eines Wortes so verändert, dass sie missverständlich
geworden ist: so als bräuchten die am Rande nur ein wenig seelsorgerlichen
Trost oder gar Vertröstung auf spätere Seligkeit. Besser:
Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und zu retten, wörtlich:
herauszureißen, also aus körperlicher und seelischer
Not und gesellschaftlicher Isolation zu befreien.
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu
machen, was verloren ist."
Wenn ich diesen Wochenspruch als Anrede höre, also als Gottesbotschaft
für mich und dich, dann höre ich zwei Dinge: Ich höre
Trost. Und ich höre eine Aufforderung.
Wenn du dich zu den Verlorenen zählst, zu denen am Rand, im
Abseits oder auf Abwegen. Ob nun aus eigener Schuld, oder verstrickt
in Strukturen und Zwängen, oder auch ganz ohne Schuld, dann
höre: Gott hat dich nicht vergessen. Er sucht dich. Er geht
dir nach. Er lässt nicht locker, bis auch du wieder die Kurve
kriegst und die Wende schaffst.
Nicht wegschauen!
Und ich höre eine Aufforderung: Die Aufforderung, nicht wegzusehen,
wenn jemand am Rand steht. Die Aufforderung, genauer hinzuschauen
und sich nicht mit einfachen Antworten und Stammtischparolen zufrieden
zu geben. Die Aufforderung, weniger nach Ausreden und Erklärungen
zu suchen, weswegen ich nicht helfen will, kann, soll und darf.
Die Aufforderung, wie Jesus nicht zuerst nach Schuld zu fragen,
sondern etwas zu tun.
Manchmal hilft die Mundart, noch ein wenig schärfer herauszuarbeiten,
was da steht. Der ehemalige Hallstadter Pfarrer Hartmut Preß
hat zusammen mit 70 Menschen aus verschiedenen fränkischen
Mundartgebieten das Lukasevangelium übersetzt. Sie wissen ja:
Lesen geht ganz gut, aber vorlesen ist schon schwieriger:
Also: „Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig
zu machen, was verloren ist."
„Jednfolls bin ich dodäfüä do, dass ich schau,
wus fehlt und helf, wo ich konn."
Alles klar?
Was wäre Jesus froh, wenn wir auch genau dodäfüä
do wär'n: schaun, wus fehlt und helfen, wo mer kann. Amen
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