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Die Predigt |
Vor
der eigenen Tür kehren
"Jeder soll vor seiner eigenen Tür kehren." So sagen
wir, wenn sich jemand kritisch über andere äußert,
aber eigene Fehler nicht so gut sieht.
Oder noch deutlicher: "Wenn jemand mit dem Finger auf andere
zeigt, dann zeigen drei Finger auf ihn selber zurück."
Mit dem Finger auf jemanden zeigen: ihn vor anderen bloßstellen,
ihn in eine Ecke stellen, ihn anklagen, ihn verurteilen. Das kann
man ganz wörtlich mit dem Finger, aber auch mit Worten, mit einer
kurzen Bemerkung oder auch nur mit einem Blick. Wer das als Opfer
schon erlebt hat, weiß, wie beschämend das sein kann, wie
weh das tun kann. Und wer das weiß, der macht es dann hoffentlich
bei anderen nicht, sondern geht in sich und bedenkt seine eigenen
Fehler und Schwächen.
Auf jemand mit dem Finger zeigen
Mit dem Finger zeigen. Jemandes Fehler hervorheben. Leider gehört
es zum Alltag überall, wo Menschen Konkurrenten sind: Unter ungleichen
Geschwistern. In einer Schulklasse. Unter Nachbarn. Unter Arbeitskollegen.
In einem Verein z.B., wo manche Mitglieder es immer besser wissen
als ihre Vorstände. Wenn man dann aber einmal öffentlich
seinen Mund aufmachen soll, geschweige denn selbst Verantwortung übernehmen,
dann will man nichts gesagt haben.
Oder bei einem Länderspiel, wo Deutschland auf einmal aus Millionen
Bundestrainern besteht, die es besser gemacht hätten, oder aus
Millionen
Schiedsrichtern, die es besser gesehen haben. Oder auch unter Konfirmanden,
wenn einer von den anderen heimlich oder öffentlich gehänselt
wird, indem man sich z.B. über ein körperliches Merkmal
lustig macht. Und die es tun, bei denen könnte man leicht auch
etwas Passendes finden.
Aus Meinungsverschiedenheiten werden Verurteilungen
Der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief Kapitel 14. Es ist
die Epistel des heutigen Tages.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest
du deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt
werden. 11 Denn es steht geschrieben (Jesaja 45,23): »So wahr
ich lebe,
spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen, und alle Zungen
sollen Gott bekennen.« 12 So wird nun jeder von uns für
sich selbst Gott Rechenschaft geben. 13 Darum lasst uns nicht mehr
einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn,
dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.
Was war los in der christlichen Gemeinde in Rom? Da waren Gemeindeglieder,
die als Juden aufgewachsen waren: Mit bestimmten Feiertagen des jüdischen
Kalenders. Mit ganz bestimmten Essensvorschriften. Sie konnten nicht
einfach aus ihrer Haut, auch als Christen nicht. Bei vielen Dingen
hatten sie Skrupel. Und da waren
Christen, die als ehemalige Heiden alles das nicht kannten. Sie fühlten
sich frei von diesen alten Regeln.
Und dann im täglichen Leben, als sie miteinander gegessen, miteinander
Gottesdienst gefeiert haben, da waren da die verschiedenen Meinungen,
die Missverständnisse, die Sticheleien, und schnell auch die
Verurteilungen. Und die in ihrem Glauben freier und stärker waren,
die waren auf einmal für die anderen die Gesetzlosen. Und im
Gegenzug waren dann die anderen die Altmodischen und die Schwächlinge.
Welche Freiheiten hat man als Christ?
Was darf man und was darf man als Christ nicht? Durch die Geschichte
hindurch kam die Frage immer wieder. Und immer wieder gab es die
Strengeren, die schnell ihre Skrupel hatten, und die moderneren, freieren.
Darf man als Christ ins Wirtshaus gehen? Was da manchmal für
Redensarten geführt werden! Ist Karten spielen erlaubt? Haben
da nicht manche schon Haus und Hof verloren? Sollte man eigentlich
als Christ nicht besser die Finger vom Alkohol lassen? Müsste
man aus Ehrfurcht vor der Schöpfung nicht Vegetarier werden?
Müsste man in der Nachfolge Jesu nicht Pazifist sein und jegliche
Gewalt ablehnen?
Und dann können unterschiedliche Vorstellungen in einer Gemeinde
aufeinanderprallen. Beide meinen es ernst. Beide haben ihre Bibel
gelesen. Und doch spricht auf einmal einer dem anderem den Glauben
ab.
Ich wüsste in unserer Gemeinde kein Beispiel dieser Art. Eher
geht es um Kleinigkeiten: Wenn z.B. mancher Ältere nicht verstehen
und annehmen
kann, wie junge Familien Gottesdienst feiern. Wenn Jüngere ihrerseits
althergebrachte Gesänge im Gottesdienst lieber abschaffen würden.
Wenn
Liebgewonnenes oder in der Kindheit Gelerntes sich ändert: Wie
oft man zum Abendmahl geht, warum man nicht mehr kniet oder sich nicht
mehr
vorher in der Sakristei anmeldet, und ob auch Gemeindeglieder mit
austeilen dürfen.
Kritisieren – ja, aber nicht den Stab brechen
Paulus bittet die Gemeindeglieder in Rom, zu unterscheiden, ob es
um grundlegende Dinge geht, oder um Dinge, wo man verschiedener Meinung
sein kann. (14,1) Und dann sollen sie sich einander mit ihrer Frömmigkeit
und ihrer Art zu Glauben akzeptieren und gelten lassen. Sie sollen
entdecken, wie beide das, was sie tun, mit gutem Gewissen vor Gott
tun. (14,5) Sie sollen einander die Gewissen nicht erschweren oder
gar
einer dem andern das gute Gewissen absprechen. Jeder, so sagt er,
muss selber sehen, wie er im Glauben steht. (14,4) Da soll einer dem
anderen
nicht das Wichtige, auf dem er steht, madig machen.
Gibt es denn dann überhaupt keine gemeinsame Richtung mehr? So
könnte man fragen. Kann denn jeder seine Empfindlichkeiten in
den Vordergrund stellen und dann machen, was er will? Darf man auch
nicht mehr kritisieren? So sagt es Paulus nicht. Er hat in seinen
Briefen sogar sehr heftig streiten können, wenn es aus seiner
Sicht um das Eingemachte, um den Kern des Glaubens geht. Diskussion
und Kampf um die Sache, ja.
10 Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest
du
deinen Bruder? Wir werden alle vor den Richterstuhl Gottes gestellt
werden.
Um die Sache streiten, ja. Aber nicht richten und verachten. Da ist
die Grenze überschritten. Richten heißt: Ich bin fertig
mit dem anderen. Das Urteil steht. Die Diskussion ist zu Ende. Der
Stab ist gebrochen. Ich setze
meine Meinung absolut, ohne dass die Frage geduldig ausdiskutiert
worden wäre.
Warum nicht richten? Richten bedeutet, sagt Paulus, sich über
einen anderen stellen, sich über ihn erheben. Das steht allein
Gott zu. Von
ihm aus gesehen, sind alle Brüder und Schwestern. Beide sind
von Gott angenommen. (14,3-4) Für beide gleichermaßen ist
Christus gestorben. (14,9) Gott wird dem anderen sein Recht verschaffen.
Und du musst dich am Ende vor ihm verantworten.
Miteinander die Richtung suchen
Besser aber ist es, zu sagen, was man tun könnte, als nur zu
betonen, was man nicht tun darf. Besser ist es, eine Alternative,
eine Perspektive aufzuzeigen. Und das tut Paulus. Er tut es im griechischen
Text mit einem Wortspiel, das auch Martin Luther in seiner Übersetzung
nachzuahmen versucht:
13 Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern
richtet
vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß
oder Ärgernis bereite.
Mit anderen Worten: Richtet nicht einander, sondern richtet euch miteinander
aus. Richtet nicht, sondern sucht miteinander eine Richtung. Sucht
miteinander den richtigen Weg.
Tut nichts, von dem Ihr genau wisst, dass sich der andere oder die
andere, die für euch vor Gott Bruder und Schwester sind, ärgern
werden. Was da im griechischen Text steht, hat zu tun mit den Worten
"Stolperstein" und
"Falle": Spürt und entdeckt, wo andere verletzlich
sind, wo sie empfindlich sind, wo sie ihren wunden Punkt haben. Und
hakt da nicht genüsslich oder absichtlich nach, auch wenn ihr
vielleicht zehn Mal Recht habt. Lasst einen
anderen nicht bewusst stolpern. Stellt ihm nicht mit Worten oder Bemerkungen
ein Bein. Stellt ihm keine Falle.
Und damit werden diese Bibelworte, die eigentlich zum 4. Sonntag nach
Trinitatis gehören, auch zu einem Kirchweihtext: Richtet einander
in der Gemeinde nicht. Richtet Euer Augenmerk nicht auf die Fehler
und Schwächen. Sondern sucht als Gemeinde miteinander eine Richtung.
Oder wie es Paulus nach diesen Worten zusammenfasst: Jeder von
uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur
Erbauung. (Röm 15,2). Amen |
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