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predigt[e].de

Die Predigt vom 5. September 2004 (13. Sonntag nach Trinitatis):
»Dem Menschen ein Mensch werden«

Kirchenjahr
Informationen zum Kirchenjahr
Der Ort der Predigt im Kirchenjahr
Die Evangelische Kirche beging den 13. Sonntag nach Trinitatis. Sein Thema ist die Verantwortung für den Mitmenschen. Evangelium dieses Sonntags ist das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Epistel und Predigttext (s.u.) war ein Abschnitt aus 1. Johannes 4:
Predigttext
Sie können den Text auch online nachlesen. Weitere Bibellinks finden Sie unter Glaube und Leben.
Der Predigttext
7 Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe. 9 Darin ist erschienen die Liebe Gottes unter uns, dass Gott seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt, damit wir durch ihn leben sollen. 10 Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für unsre Sünden. 11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben. 12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.
Predigt
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Die Predigt

Viel Liebe auf einem Fleck

So heißt es im 1. Johannesbrief, Kapitel 4, der Epistel und dem Predigttext für heute. Was sofort in die Augen und in die Ohren springt: Ganze 15 mal hören wir das Worte Liebe in insgesamt nur fünf Versen! Das Thema ist klar.

Aber noch am vergangenen Sonntag hätten wir diese Worte anders gehört als nach dieser vergangenen Woche. Mit einem leisen Seufzen hätten es
vielleicht viele Predigthörer gehört: Schon wieder das Thema "Liebe". Was wird's wohl diesmal Neues geben? Natürlich sind wir alle dafür. Aber wir wissen auch, wie schwer die Liebe im Alltag immer wieder fällt.

Und als Prediger hätte ich mich wohl v.a. daran erinnert, dass ich die althergebrachte Anrede "Liebe Gemeinde" schon lange nicht mehr verwende. Sie geht einem so schnell über die Lippen, zu schnell für dieses gewichtige Wort. "Ihr Lieben", so fängt auch Johannes an. "Ihr Lieben", "Mein Lieber!". Das kann leicht zur Floskel werden. Ja, es kann auch ironisch oder gar drohend gemeint sein.

Der „liebe Gott“ und die Geiselnahme

"Gott ist die Liebe". Wie viele werden das nach den Geschehnissen im Kaukasus heute ganz anders hören? Natürlich bricht wieder die uralte, nie erledigte Frage auf, wie man da überhaupt von einem "lieben Gott" sprechen kann, wenn so viele Unschuldige und v.a. Kinder umkommen. Wo ist da der liebe Gott? Wie kann er zulassen, dass Menschen so miteinander umgehen? Und es gibt auch diesmal keine eindeutige, befriedigende Antwort: in diesem Predigttext nicht, und auch von mir als Prediger nicht. Keine Antwort außer der, die der anglikanische Erzbischof gestern in einem Interview gegeben hat: Gott hat uns Menschen Freiheit geschenkt. Wir sind keine Marionetten. Wir haben die Freiheit zum Guten, aber auch zum Bösen. So ernst meint es Gott mit unserer Freiheit, dass er uns gewähren lässt.

Liebe – ein Hauptwort und ein Tätigkeitswort

Der Predigttext löst alle diese Fragen nicht einfach auf. Aber vielleicht deutet er da oder dort eine Richtung an:

7 Ihr Lieben, lasst uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebt, der ist von Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.

Das sind allgemein gültige Sätze, die man auch heute noch nachsprechen kann. Aber Johannes scheint damals damit ganz bestimmte Menschen in
der Gemeinde oder an ihrem Rand im Blick zu haben. In deren Richtung: Wer nicht liebt, wer nicht tätige Nächstenliebe übt, der braucht das Wort Gott gar nicht in den Mund zu nehmen. Die Ausleger streiten sich, wen er da – auch an anderen Stellen seiner Briefe – im Auge hatte: Es scheint aber besonders Fromme gegeben zu haben, die so abgehoben waren, die so ganz auf ihre Gotteserkenntnis aus waren, dass sie den Nächsten unmittelbar um sich herum vergessen haben.

Keine Gewalt kann sich auf Gott berufen

8 Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.
Das heißt aber in diesen Tagen ganz eindeutig: Keine Gewalt kann sich auf Gott berufen. Keine islamische Gewalt kann sich auf Allah berufen. Da ist sich der Koran in der Mehrheit seiner Ausleger mit der Bibel einig. Auch in Nordirland und auf dem Balkan kann sich keine Seite, ob protestantisch, katholisch oder muslimisch, auf Gott berufen. Und ein Missbrauch Gottes war es auch, wenn im Kalten Krieg manche im Osten das Reich des Bösen gesehen haben, gegen das man kämpfen muss; oder wenn Soldaten mit dem Motto "Gott mit uns" in den Krieg gezogen sind; oder Christen in den Kreuzzügen mit dem Motto "Deus vult", "Gott will es so".

Bischof Wolfgang Huber, als Ratspräsident der höchste deutsche evangelische Repräsentant wird heute in der Bildzeitung in einem Kommentar zu lesen sein: Er fordert die deutschen Muslime auf, Terrorismus deutlich zu verurteilen, und erinnert daran, wie eindeutig die französischen Muslime sich für die Befreiung der beiden Journalisten im Irak eingesetzt haben.
Man kann sich streiten, ob sich Bischöfe in der Zeitung mit den vier Buchstaben überhaupt äußern sollten. Aber sie wird nun mal gelesen. (Die Auflage der "Bild am Sonntag" beträgt übrigens etwa zwei Millionen. Eine Predigt hören am Sonntagmorgen ca. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland.)

Keine Gewalt kann sich auf Gott berufen. Noch deutlicher im letzten Vers des Predigttextes:
12 Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen.

Handgreifliche Liebe

Mit anderen Worten: Wer oder wie Gott in Wirklichkeit oder eigentlich ist, ist eine fruchtlose Diskussion. Wichtiger ist die Tat der Liebe. Oder: Die höchste Theologie ist nicht so sehr Diskutieren und Philosophieren, sondern praktische Liebe.
Die anderen beiden Texte, die dem heutigen Sonntag die Richtung geben, sagen es eindeutig. Der Wochenspruch: "Christus spricht: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Und das Evangelium vom barmherzigen Samariter, wo die beiden frommen Juden achtlos bzw. ängstlich vorbei gehen, der Samaritaner aber mit der fremden Religion ohne Angst tut, was zu tun ist.

Liebe ohne Hände geht nicht. Liebe ist nicht so sehr reden, sondern in den Arm nehmen. Am Freitag wurde im Fernsehen ein Kinderpsychologe befragt, was die Eltern überhaupt tun können, damit die überlebenden Kinder ihr Trauma irgendwie verarbeiten können: Körperliche Nähe, festhalten, da sein, nicht alleine lassen.

Gottes Liebe nimmt Gestalt an

10 Darin besteht die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern
dass er uns geliebt hat und gesandt seinen Sohn zur Versöhnung für
unsre Sünden.

Auch Gott hat sozusagen nicht einfach nur mit Worten oder platonisch oder theoretisch die Menschen geliebt. Gottes Liebe war nicht nur Gefühl oder Gedanke. Sondern seine Liebe hat Gestalt angenommen. Sie war ganz praktisch. In Jesus ist Gott nicht in seinem Himmel geblieben, sondern den Menschen ein Mensch geworden.
Den Menschen ein Mensch werden, so hat dann auch Jesus gelebt. Und wenn wir Auskunft geben wollen, wer oder wie Gott ist, dann können wir
es nur an Jesus ablesen. Wie er mit den körperlich und seelisch Kranken umgegangen ist. Wie er mit denen am Rande der Gesellschaft umgegangen ist, mit denen die anderen nichts zu tun haben wollten, und vor denen sie sich geekelt haben.

Dem Menschen ein Mensch werden

Den Menschen ein Mensch werden. Auch wir können Liebe nicht anders buchstabieren. Deswegen das Fazit des Johannes:
11 Ihr Lieben, hat uns Gott so geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben.
Überraschend ist der Knick in der Logik. Es ist wichtig, das herauszuhören: Eigentlich wäre die logische Folgerung: Wenn Gott uns so grenzenlos geliebt hat, dann sollen wir auch ihn lieben. Nein, Johannes sagt: Wenn Gott uns so geliebt hat, dann sollen wir uns untereinander lieben. Logisch heißt das nichts anderes als: Indem wir untereinander Liebe üben, lieben wir Gott. Er braucht sozusagen unsere Liebe nicht so notwendig wie sie unser Nachbar braucht.

Liebe bedeutet „Ich sehe dich“

Und wer ist nun unser Nachbar und was braucht er? Darauf antwortet Jesus im Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Dein Nächster ist immer der, der dich gerade in diesem Moment dringend braucht. Du brauchts ihn eigentlich nicht suchen. Du stolperst über ihn, wenn du die Augen auf machst.

Von einem Bibelübersetzer wird erzählt: In der Eingeborenensprache, in die er die Bibel übersetzen sollte, gab es keinen entsprechenden Begriff für das Wort Liebe. Liebe ist ein sog. abstrakter Begriff. Und solche abstrakten Begriffe kannte die einfache und handfeste Sprache nicht. Da habe der Übersetzer ganz einfach Liebende beobachtet und wie sie einander ihre Liebe gestehen. Und sie hätten in ihrer Sprache gesagt: "Ich sehe dich."
Liebe ganz praktisch: Wenn wir die Augen aufmachen und den anderen sehen. Wirklich hinsehen. Wirklich wahrnehmen. Ich glaube, dann werden wir wie der barmherzige Samariter immer sehen, was zu tun ist. Aber es dann wirklich tun, das ist und bleibt immer schwer. Zugegeben. Deswegen:

Nimm Gottes Liebe an! Du brauchst dich nicht allein zu mühn,
denn seine Liebe kann in deinem Leben Kreise ziehn.
Und füllt sie erst dein Leben und setzt sie dich in Brand,
gehst du hinaus, teilst Liebe aus, denn Gott füllt dir die Hand.

Amen

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Michael Thein • Pfarrer • Kaulbachstraße 2b• 95447 Bayreuth • Tel. 0921-65378 • Fax 03222-2426857

mic.thein@t-online.de www.michael-thein.de