Versöhnung
"Versöhnung" ist der Kern dieser Worte, ja auch der
Kern des Karfreitags. Karfreitag, das ist für die Christen
das, was die Juden als den "großen Versöhnungstag",
Jom Kippur, feiern.
Besinnen Sie sich kurz: Wann haben Sie sich zum letzten mal mit
jemand versöhnt. - Wer war es? - Wie war es? - Was ging dem
voraus? - Wie ging es ihnen hinterher? ...
Wie ist das, wenn Menschen sich versöhnen? In Bildern gesprochen:
Versöhnung ist wie ein Brückenschlag, da wo keine Brücke
mehr ist.
Versöhnung ist, wie wenn eine Tür aufgemacht wird, die
lange verschlossen war. Versöhnung ist, wie wenn eine Grenze
niedergerissen wird, die zwei zwischen sich aufgerichtet hatten.
Versöhnung ist, wenn einer dem anderen wieder in die Augen
schauen kann. Versöhnung ist, wenn einer dem anderen wieder
die Hand reicht.
Verhärtete Fronten
Was steht
vor einer Versöhnung? Einer Versöhnung geht ein Bruch,
gar ein Abgrund voraus. Türen sind zugeschlagen worden. Grenzen
wurden gezogen, Abstand gewahrt. Gesichtszüge haben sich verhärtet.
Diesen Bruch muss man erst nehmen, bevor es zu einer wirklichen
Versöhnung kommen kann. Man kann ihn nicht vernachlässigen
und so tun, als ob nichts gewesen wäre. Sonst bricht das Ganze
beim kleinsten Anlass doch nur wieder auf, weil es nicht wirklich
ausgesprochen und in Ordnung gebracht war.
Was ist das Schwere auf dem Weg zu einer Versöhnung? Einer
wartet auf den anderen: "Der muss den ersten Schritt tun: Weil
er den größeren Anteil der Schuld hat. Oder: Weil er
angefangen hat." "Ich wäre ja bereit zur Versöhnung.
Aber ist er es wirklich auch? Das muss er mir erst beweisen. Ich
habe Zeit."
Man belauert sich. Keinem darf ein Zacken aus der Krone fallen.
Jeder muss der Stärkere bleiben. Den ersten Schritt tun, ist
das nicht ein Zeichen von Schwäche?
Den alten Adam ersäufen
Versöhnung: Ein durch und durch menschliches Thema. Wer könnte
sagen, dass er noch nichts damit zu tun gehabt hat? Paulus nun in
seinem Brief an die Korinther überträgt das Ganze auf
das Verhältnis zwischen Menschen und Gott: Warum braucht es
Versöhnung zwischen Gott und Mensch? Weil da immer wieder wie
zwischen Mensch und Mensch ein Bruch ist, ein Graben, eine geschlossene
Tür, ein verweigerter Handschlag.
Der Mensch ist und bleibt heillos egoistisch. Und das gilt auch
für den glaubenden Menschen, der wie Luther sagt, immer ein
Sünder und Gerechtgesprochener zugleich ist. Oder dessen alter
Adam, wie er sagt, jeden Tag neu ersäuft werden muss. Dass
auch der Glaubende ein Egoist ist und bleibt, heißt nicht,
dass er ein moralisch schlimmer Mensch wäre. Von seinen Taten
her, von seinem Handeln her merkt der, dessen Glaube
wächst und sich festigt, dass auch sein Lebenswandel davon
geprägt wird. Doch der Egoismus bleibt. Ja, je mehr jemand
im Glauben vorankommt, entdeckt er im allgemeinen seinen Egoismus
erst so richtig. Je größer einem die Gnade Gottes wird,
desto deutlicher, ehrlicher und schonungsloser sieht man auch sein
eigenes Selbst.
Gott tut den ersten Schritt
Was nun? Wie kann es Versöhnung und Brückenschlag zwischen
Gott und Mensch geben? Was wäre, wenn es menschlich zuginge?
Der Mensch könnte sagen: Was? Versöhnung? Ich soll den
ersten Schritt tun? Was habe ich denn getan? Ich bin doch kein Verbrecher?
Ich bin doch immer anständig gewesen. Soll ich wohl vor Gott
zu Kreuze kriechen, damit er mir gnädig die Hand hinstreckt?
Und Gott könnte sagen: Wer bist du? Was bildest du dir ein,
Mensch, dass dein Schöpfer den ersten Schritt tun sollte?
Gott sei Dank, es ist bei Gott nicht so wie bei den Menschen: dass
einer auf den anderen wartet, dass einer den anderen belauert, dass
keiner einen ersten Schritt tun will, dass jeder denkt, es könne
ihm ein Zacken aus der Krone fallen.
Wie sagt es Paulus: "Gott versöhnte die Welt mit sich
selber." Gott, der Schöpfer, tut selber den ersten
Schritt. Er, der ist nicht nötig gehabt hätte, reicht
dem Menschen die Hand, öffnet dem Menschen die Tür, schlägt
die Brücke über den Abgrund.
Hören wir genauer hin. Nicht: Gott versöhnt sich mit uns.
Sondern: Gott versöhnt uns mit sich. Weil Versöhnung von
uns ausgehen müsste, tritt er in auf unsere Seite, um uns mit
sich zu versöhnen. Ein Gedanke, den man wohl nie recht zu Ende
denken kann.
Sünde und Schuld beim Namen nennen
Wie soll das gehen? Wieder Paulus: "Gott war in Christus
und versöhnte die Welt mit sich selber." Gott, der
weiß, dass der egoistische Mensch
seine Hand nie ausstrecken kann, sondern bockig weiter warten wird,
der tritt in dem Menschen Jesus an die Seite der Menschen. Und so
versöhnte Gott selber damals durch das heilende Handeln und
durch das heilende Reden Jesu den Menschen. Und er tut es auch heute
noch.
Sieht er damit über unseren heillosen Egoismus, über den
alten Adam in uns einfach so hinweg? Nein. Versöhnung geschieht
nicht durch Verharmlosung. Wenn zwei Menschen sich versöhnen,
indem sie gegenseitige Schuld ausklammern oder ein Mäntelchen
drüber decken, machen sie sich etwas vor. Mit den Worten des
Paulus: "Gott war in Christus und versöhnte die Welt
mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu."
Sünde bleibt Sünde. Schuld bleibt Schuld. Was einer zum
Zerwürfnis beigetragen hat, muss auch den Tisch. Doch Gott
rechnet es dem Menschen nicht an. Er begleicht es selber.
Die Zeche ist bezahlt
So macht Gott im großen Stil, was auch unter uns Menschen,
Gott sei Dank, immer wieder einmal im Kleinen geschieht: Da wird
einem, der am
Abend nach Hause will, und seine Zeche nicht zahlen kann, von einem
guten Freund ohne Aufhebens aus der Patsche geholfen.
Die Redensart, dass jemand die Zeche zahlen müsse, wird ja
leider meistens negativ verwendet: Einer frisst etwas aus, und der
andere muss ungerechterweise nun die Zeche zahlen. Aber das gibt
es ja dankbarerweise auch, dass einer dem anderen freiwillig und
gerne und freudig seine Zeche bezahlt.
Freiwillig unsere Zeche bezahlen, das hat in einem übertragenen
Sinne Jesus damals gemacht, als er die Verurteilung auf sich genommen
hat. Mit den Worten des Paulus: "Gott hat den, der von
keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, damit
wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt."
Helfer zwischen den Fronten
Wenn Nachbarn, wenn Ehepartner, wenn Arbeitskollegen, wenn Eltern
und Kinder, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht aus eigener
Kraft aufeinander zugehen können, braucht es Vermittler. Menschen,
die bereit sind, sich zwischen die Fronten zu stellen und werbend
in beide Richtungen zu reden. Da, wo es schwer fällt, dass
einer dem anderen die Hand reicht, tut einer gut, der beide bei
der Hand nimmt und ihnen hilft, sich langsam näher zu kommen.
In einer solchen Rolle versteht sich der Apostel Paulus im Blick
auf uns Menschen, wenn er sagt: "So sind wir (damit meint
er sich selbst) nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt
durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen
mit Gott!" Paulus, der Vermittler, der zwischen den Fronten
hin und her geht und der einen Seite die Friedensbotschaft der anderen
Seite ausrichtet, mit der Bitte, doch einzuschlagen in die ausgestreckte
Hand.
Der große Versöhnungstag
Die Zeche ist bezahlt. Es ist Frieden. Gott hat in Jesus Frieden
gemacht zwischen dir und sich. Diese Botschaft muss uns Menschen
immer wieder neu ausgerichtet werden. Warum immer wieder neu? Eine
Friedensbotschaft braucht offene Ohren. Allen von uns ist dieser
Frieden mit Gott verkündigt worden bei unserer Taufe. Er gilt,
aber wir haben ihn nicht gehört, weil wir zu klein waren. Das
ist und bleibt ein Problem unserer Taufe von Säuglingen.
Gottes Frieden ist uns verkündigt worden bei unserer Konfirmation.
Er gilt, aber wie viele von uns haben ihn damals wirklich gehört?
Die Brücke über den tiefen Graben dankbar annehmen: Das
kann nur der, der den tiefen Graben wirklich empfindet. In Gottes
Hand einschlagen. Das kann
vielleicht nur der, der einmal sehnsüchtig nach seiner Hand
gesucht hat.
"Lasst euch versöhnen mit Gott." sagt Paulus. "Hört
die Botschaft von dem Frieden, der schon längst geschlossen
ist. Schlagt ein in die ausgestreckte Hand Gottes. Wenn nicht heute
am großen Versöhnungstag, wann denn sonst?"
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